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Ein Besuch am Niederrhein
Rudolf („Rudi“) Hell ist heute 86 Jahre alt und einer der letzten Rheinfischer. Er lebt in Kalkar-Grieth am unteren Niederrhein.
Einer der letzten Rheinfischer
Er ist 86 Jahre alt, denkt aber noch gar nicht ans Aufhören. Rudolf Hell aus Grieth am Niederrhein ist einer der letzten Flussfischer in Nordrhein-Westfalen. Was ihn am Fischen so fasziniert? Rudolf Hell schaut auf das Wasser und denkt kurz nach. „Ich habe das im Blut. Da gehe ich drin auf“, sagt er. Kurz blitzt ein Lächeln über sein Gesicht. Der Rhein, das Wasser, die Luft – das alles treibe ihn an. „Es ist jeden Tag was anderes, wenn man das Netz hochholt.“
Hell ist 1937 in Grieth, einem Ortsteil der niederrheinischen Stadt Kalkar, geboren. Im Januar (2023) ist er 86 geworden. „Rudi“, wie ihn hier fast alle nennen, stammt aus einer Fischerfamilie. Seine Vorfahren hätten seit mindestens 300 Jahren von der Fischerei gelebt, erzählt er. Sein Großvater zeigte ihm, wie man Stellnetze und Reusen setzt, als Hell noch ein kleiner Junge war. Damals stand für ihn schon fest, was er einmal werden wollte. Und auch, dass er hier in Grieth bleiben wollte. Heute ist er einer der letzten Rheinfischer und weit über seine Heimat hinaus bekannt.
Hell, der Mann mit dem weißen Bart, der Fischermütze und den Gummistiefeln, läuft die schmale Steintreppe zum Wasser hinunter und klettert auf ein kleines Boot. Nach wenigen Metern befestigt er ein Tau an seinem Schokker „Anita II“ – benannt nach seiner Ehefrau, die vor ein paar Jahren gestorben ist – ankert hier nur einen Steinwurf vom Griether Rheinufer entfernt. Bis zu seiner Rente im Jahr 2000 arbeitete Hell in einer Kiesbaggerei in Rees, nur ein paar Kilometer weiter südlich. Dann hatte er mehr Zeit für sein Hobby und kaufte sich sein erstes Fischerboot. Inzwischen hat er zwei.
„Anita II“ ist 19 Meter lang und fünf Meter breit. Hell hat den Schokker komplett restauriert und wohnlich eingerichtet, mit einer kleinen Küche und einem Wohnzimmer mit Holzboden und Ausziehcouch. Oft schläft Hell hier jedoch nicht. Sein Haus liegt in der kleinen Siedlung, nicht weit hinter dem Rheindeich, gut 600 Meter Luftlinie entfernt. Sein Sohn wohnt in derselben Straße. Bruder Heinz gehört der hiesige Fährbetrieb.
Der Schiffstyp Schokker hat seinen Ursprung in den Niederlanden. Der Name stammt von der früheren Insel Schokland. Die motorlosen Fischerei-Segelschiffe sind vor allem für den Aalfang ausgelegt. Schokker verfügen über eine spezielle Vorrichtung zum Fischen: Seitlich des Bootes ist zwischen zwei Bäumen, dem Schokkerbaum, ein 60 Quadratmeter großes und wie ein Trichter geformtes Netz gespannt. Hell ist zweimal am Tag auf der „Anita II“. Morgens holt er das Netz ein, um es zu leeren. Nachmittags wird es gereinigt und wieder neu ins Wasser gelassen.
Hell fischt hauptsächlich für wissenschaftliche Projekte. Er arbeitet mit verschiedenen Universitäten zusammen: Köln, Essen, Trier, Koblenz, Landshut. Die Wissenschaftler holen regelmäßig Proben bei ihm ab. Heute begleitet ihn Amrei Fidler, eine Biologin vom Rheinischen Fischereiverband. Die beiden entleeren den Inhalt der Reuse in einen großen schwarzen Eimer und sortieren anschließend: Das Laub werfen sie sofort zurück ins Wasser. Die Fische werden gemessen, um ihr Alter zu bestimmen. Heute sind viele Brassen, Rotaugen, Nasen, Barsche und zwei Welse im Eimer. Unter den gelben, braunen, roten und grünen Blättern schlängelt sich ein langer Aal.
Das sogenannte „Schokkerprojekt“ wird durch das Land NRW und vom Europäischen Meeres- und Fischereifonds (EMFF) finanziert. Dabei führt der Rheinische Fischereiverband mithilfe von Hell ein Fisch-Monitoring durch. Sie untersuchen die Entwicklung verschiedener Wanderfischarten im Rhein, um Rückschlüsse auf den Bestand und die Rheinfischfauna zu ziehen. Maifische und Lachse waren vor Jahren aus dem Rhein verschwunden, heute sind sie wieder da. Nach dem Messen werden die Fische zurück ins Wasser geworfen. Die schreienden Möwen warten einige Meter entfernt schon aufgeregt in Lauerstellung. Vor ein paar Tagen war Vollmond, da hat Hell keine Netze ausgestellt. „Bei Vollmond beißen die Fische nicht“, sagt er. Amrei Fidler lacht. „Wenn Rudi das sagt, dann ist das so.“
Fragt man Hell nach früher kommt er ins Erzählen. Darüber, wie vor Jahrzehnten hier noch mit 300 Meter langen Netzen Lachse gefischt wurden. Der gefangene Fisch wurde in Körben zwischen Eisschichten gelagert und dann mit Pferdekarren zum nächsten Bahnhof und von dort nach Düsseldorf gebracht. Hell erinnert sich auch an die vielen Maifische, die es damals im Rhein gab. „Da war ein zehn Meter breites, schwarzes Band neben dem Ufer.“ Nach dem Fangen seien sie über die Dörfer gefahren und hätten den Fisch verkauft. 50 Pfennig für einen großen Eimer Fisch. „Wenn die Maifische kamen, gab es jeden Abend Bratkartoffeln mit Fisch“, sagt er und muss lachen. Zander, Wels und Grundeln, die Hell heute regelmäßig aus dem Wasser holt, habe es damals im Rhein hingegen gar nicht gegeben.
Was sich verändert habe? Früher seien sie den Rhein hoch und runter geschwommen. Auch wegen des Soges sei das heute nicht mehr möglich. „Ich würde es nicht empfehlen“, sagt Hell. Auch die Schifffahrt habe sich verändert, es gab keine Motoren- und Tankschiffe. Der Rhein sei wesentlich schmutziger gewesen, weil die Industrie Abwässer eingeleitet habe. „Es stank nach Karbol, das konnte man noch drei Kilometer vom Rhein entfernt riechen“, sagt Hell. „Wenn man Fisch gegessen hat, musste man aufstoßen.“ Heute sei das Wasser sauberer und klarer, trotzdem ärgert er sich über den vielen Müll. Viele Jahre lang hat Hell den Plastikmüll, den er aus dem Wasser gezogen hat, an Land in einem Container gesammelt. Die Entsorgung haben Sponsoren übernommen. Im Jahr kamen 12 bis 14 Kubikmeter Müll zusammen.
Ein vorbeifahrendes Schiff hupt. Hell hebt den Arm und grüßt zurück. Man kennt sich hier, man kennt ihn. Normalerweise endet sein Fischerjahr Anfang Dezember. Aber auch der Kalender hat sich verändert. Im vergangenen Jahr seien die ersten Wanderaale erst Mitte Dezember gekommen. Das Wasser sei wärmer gewesen als in den Vorjahren. „Das liegt wohl am Klimawandel“, sagt Hell.
Heute ging ihm ein Zander ins Netz. Er misst mit einem halben Meter deutlich mehr als die meisten anderen Fische im Eimer. Hell freut sich über den Fang. Dennoch hatte er in diesem Jahr schon größere. Er erzählt von mehreren Aalen, allesamt jeweils deutlich über einen Meter lang. Der Aal ist Hells Lieblingsfisch. Warum? „Weil er am besten schmeckt.“ Die amtliche Empfehlung, auf den Verzehr von Wildaalen zu verzichten, weil ihr Fleisch immer noch durch Umweltgifte wie Dioxine und PCB belastet ist, lässt er nicht gelten.
So wie Hell sich auf dem Boot bewegt, sieht man ihm das Alter nicht an. Warum er so fit sei? „Viele Rentner sitzen nur noch auf der Couch vor dem Fernseher, ich bin jeden Tag auf dem Rhein“, sagt er. Hell zieht sein Handy aus der Tasche und zeigt ein Bild von seiner Freundin, die mehr als 20 Jahre jünger ist. „Sie hält mich auch jung“, sagt er.
Für diesen Tag ist die Arbeit erst einmal getan. „Wir gehen zurück an Land“, sagt Hell. Mit dem kleinen Beiboot geht es zum Ufer und dann die Steintreppe hoch. Hell wirft die Gummistiefel in seinen Kofferraum und wechselt sie gegen bequemere Schuhe. Eines Tages, das sagt er, soll sein Sohn für ihn übernehmen. Wann? Ein Limit hat er sich nicht gesetzt. Mit 90 hält er für realistisch, wenn es nach ihm geht auch noch mit 95. „So lange wie möglich“, sagt Rudi Hell, „bis es nicht mehr geht.“
Weitere Informationen:
- zuständig für Fischerei und Aquakultur ist in Nordrhein-Westfalen das Ministerium für Landwirtschaft und Verbraucherschutz
- zum Wanderfischprogramm bei der Stiftung Wasserlauf
- im Rahmen der RhineCleanUp-Initiative befreien Freiwillige den Rhein von Müll
- Weitere interessante Geschichten zu den Bächen, Flüssen und Seen Nordrhein-Westfalens in unserer Broschüre (Unter-)Wasserwelten